Anmerkungen

von Peter Schönhoff

Vor Jahren - vor vielen Jahren - sagte Ernst Kreitlow: „Der Stein der Weisen wird jener sein, der nicht geworfen wird." Darüber muss man nicht grübeln. In dem Satz stecken die Bergpredigt, Konfuzius und die schmerzliche Erkenntnis, dass man diesen Satz nicht oft genug wiederholen kann. Kann oder muss? Sicher muss man diesen Satz immer parat haben, man muss ihn ungefragt den Leuten in die Ohren schreien und das trotz der bitteren oder altersweisen Erkenntnis, nichts zu bewirken. Steine werden immer heftiger geworfen und die linke Wange hält keiner hin, er wehrt sich mit dem Stein.

Ernst Kreitlow stellt auf seiner Homepage drei Gedichtzyklen vor, die ihn als Dichter und Moralisten ausweisen. Das klingt nie nach: Herr Lehrer, ich weiß was! - denn seine Erkenntnisse sind immer erzählt und in ganz eigene Wörter gegossen. Deshalb auch haben seine Gedichte nichts mit lyrischer Schwärmerei zu tun. Sie sind sozusagen handfest. In ihnen sind ein wenig Fatalismus und ganz viel Sehnsucht. Den Fatalismus braucht er als Waffe gegen den Schmerz, dass der nicht übermächtig wird und nur noch seine Sache ist, die von anderen mit einem Achselzucken quittiert wird. Ernst Kreitlow malt ein Bild von etwas und meint dazu wie Strittmatter mal sagte: Na mäg. Also: Meinetwegen. Es ist halt so und meint: Leute, ich habe euch gewarnt.

Die vorgestellten Arbeiten stammen aus drei Gedichtzyklen: „Gesang des Windrades", „Montagsgebet" und „Echo vom Reimberg". Eines seiner Gedichte - ein Selbstporträt - beginnt ganz lapidar: „Da steht er nun, der alte Baum ..." Klingt das nicht nach: „Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor?“ Ernst Kreitlow geht es nur etwas subjektiver an, er meint zwar auch das große Ganze, aber immer aus dem persönlichen Kreitlowschen Befinden heraus. Er ist Projektor und Projektionsfläche in einem. So werden seine Gedichte zu ganz persönlichen Äußerungen. Auch dann, wenn das Andere in die Dichtung eintritt, eine Landschaft, ein Fluss oder zum Beispiel Marcos Pontes, der brasilianische Kosmonaut, der 2006 mit der Sojus im All war. In dem Gedicht „Mutter-Erde" lässt er ihn auf unseren Planeten schauen und den Anblick tief als einen Blick in die Augen der Mutter empfinden, als er noch ein Kind war und sich ganz und gar geborgen fühlte. Andere Kindheits-und Elternerinnerungen erliegen der Ohnmacht einer düsteren Zeit.

Der Dichter wurde in Cammin geboren. Seine ersten Kindheitjahre verbrachte er auf der in der Nähe liegenden bekannten Ferieninsel Wollin, auf der sein Vater eine Anstellung als Lehrer hatte. 1937 war dieses Gebiet noch Deutsch-Pommern und E.K. musste mit Mutter und Bruder 1947 als Spätaussiedler die Insel verlassen. Er teilt sein Schicksal mit Millionen anderen und hat diesen Verlust sicher schwerer verarbeitet als die meisten Kinder. Die Freundlichkeit, die Geborgenheit war für den achtjährigen urplötzlich vorbei, als sie im Frühjahr 1945 auf der Flucht über die Insel Usedom die Nachricht vom Tode des Vaters ereilte und die Mutter sich plötzlich ohne Mann und die beiden Söhne ohne Vater wiederfanden und wie alle Flüchtlinge den rauen Alltag meistern mussten. Die Heimkehr nach dem Krieg auf die Insel Wollin endete mit der endgültigen Aussiedlung.

Fast zehnjährig und immer noch ohne Schulausbildung betrat E.K. im Herbst 1947 in der sächsischen Kleinstadt Meerane endlich das Klassenzimmer einer Grundschule. Dem später empfohlenen Besuch eines Gymnasiums mochte die Mutter nicht zustimmen. Verlorene Zuversicht und die noch immer bescheidenen Lebensumstände waren da wohl ausschlaggebend. So lernte E.K. den ehrbaren Beruf des Zimmermanns, war dann kurzzeitig in Sachsen bei der Wismut AG tätig. In dieser Zeit entstanden die erste Gedichte von denen einige in der lokalen Presse veröffentlicht wurden. Sie öffneten ihm Anfang der sechziger Jahre die Tür zum Studium am Literaturinstitut „Johannes R Becher" in Leipzig.

Nach einer kurzen freiberuflichen Zeit im Raum Halle-Leipzig wurde er Kulturpolitiker im damaligen Kreis Glauchau und hatte seine liebe Not mit den ideologieverbissenen Partei-Oberen. Und das hat ihn stark gemacht. Ohne seine unaufgeregte aber konsequente Kulturarbeit wäre der Ruf der Provinzstadt Glauchau als Insidertipp für alle wirklich an der Kunst interessierten Bürger nicht so gefestigt worden, wie es sich zeigte.

Nach seinem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung und seinem starken Engagement für eine international beachtete Gerhart Altenbourg- Ausstellung im Schloß Hinterglauchau wurde E.K. 1977 seines Amtes enthoben und in die Kreisbibliothek verbannt. Geschrieben hat er in dieser Zeit wenig, irgendwie empfand er wohl einen enormen Ekel vor der Literatur. Um so erstaunlicher ist seit einigen Jahren seine Auferstehung als Dichter zu bemerken, der zwar immer noch im Stillen arbeitet, dafür aber emsig. Verstreute Gelegenheitsgedichte hat er zu den oben genannten Zyklen ausgedehnt und sie unter die oben genannten drei Themen und Titel gestellt.

Der „Gesang des Windrades" zeigen ganz explizit die Kreitlowsche Gedanken- und Themenwelt. Der Zyklus heisst im Untertitel: "Zwiegespräche mit der Natur" in freien Rhythmen. Es sind eigentlich allesamt moderne Sinngedichte, wenn sie auch nicht nach epigrammatischer Kürze aus sind. Deshalb sind sie aber noch lange nicht ausschweifend. Sie halten sich an das Wesen des Sinngedichtes: Aussage- Schlussfolgerung (ein bekanntes Sinngedicht ist: Hier ruhen meine Gebeine. Ich wünschte, es wären deine.) So einfach aber geht es bei E.K. nicht zu. Er ist komplizierter. Und eine unüberhörbare Melancholie gibt seinen Versen Farbe. „Ich besaß es doch einmal...", heißt es in einem berühmten Goethegedicht und diese melancholische Ratlosigkeit vor der eigenen Geschichte ist bei Ernst Kreitlow überall zu spüren. Die reale Welt, im Falle der Gesänge des Windrades die Natur in ihrer Komplexität, ist einerseits Dreh -und Angelpunkt aber nur, um Kreitlowsche Schlussfolgerungen darlegen zu können. Über die Merlacher Linde, ein Naturdenkmal von 1648, gestanden auf einer Anhöhe zwischen dem sächsischen Meerane und dem thüringischen Gößnitz, schreibt er: Schon siebzig Jahr geh ich zu den Dingen. Zu ihr kommen die Dinge schon vierhundert Jahr. Wer fest steht, den besucht die Zeit, wer Beine hat, den empfängt sie.

Der Gedichtzyklus „Montagsgebet" geht auf einen kleinen Stamm von Gedichten zurück, deren Entstehungszeit Jahre zurückliegt. Die ideologischen Auseinandersetzungen in den 60er bis 80er Jahren, die bei vielen Intellektuellen zu gewaltigen Erschütterungen ihres Weltbildes führten - hier ein allgemein humanistischer Anspruch (alle Menschen werden Brüder) und da eine brutale, alle Kreativität unterdrückende Parteiobrigkeit - diese Auseinandersetzungen führten bei Ernst Kreitlow zu einer rigorosen Beschäftigung mit Glaube und Realität. Es wird dem Leser auffallen, dass der Dichter durchaus von einem materialistischen Ansatz ausgeht. Er sagt: Gott ist in mir. Er sagt nicht: Gott ist über mir. Von dieser Warte aus - Gott ist in mir - erkennt er auch seine eigene Verantwortung für sein Denken und Tun. Und das auch mit der nötigen Demut. Der Leser sollte sich in diese Demut einfügen, sollte sich auf die Dichtungen mit kindlichem Vertrauen einlassen und die unglaublich breite Kreitlowsche Gedankenwelt ohne intellektuelle Besserwisserei in sich aufnehmen.

Peter Schönhoff